"Unzufriedenheit über die Demokratie"

Die AfD sitzt im Bundestag. Was ist los mit der Demokratie in Deutschland? Sind die Deutschen doch nicht reif für die direkte Demokratie? Und wären bundesweite Volksentscheide angesichts dieses Wahlergebnisses nicht eher gefährlich? Wir haben den Schweizer Politikwissenschaftler Andreas Gross dazu befragt.

 

Mehr Demokratie: Herr Gross, die AfD ist in den Bundestag eingezogen. Was sagt das für Sie über den Zustand der Demokratie in Deutschland?

Andreas Gross: Dies sagt erst einmal mehr über die deutsche Gesellschaft aus als über die Demokratie. Letztere hat primär gut funktioniert. Sie brachte die große Unzufriedenheit vieler Deutscher über die herrschenden Verhältnisse in Deutschland deutlich zum Ausdruck. Diese war im Übrigen auch gut spürbar; ich habe an der Ostsee und im Südschwarzwald im August und September je zwei Tage lang mit fast 100 Wählerinnen und Wähler lange gesprochen und deren Unmut war mit Händen zu greifen. Die beiden Regierungsparteien haben je ein Fünftel ihrer Wählerinnen und Wähler verloren; die inner- und bisher außerparlamentarischen Oppositionsparteien haben alle hinzugewonnen - und zwar mehr als diese selbst teilweise erwartet hatten.

 

Mehr Demokratie: Kritiker werfen der AfD unter anderem Populismus vor. Ist das per se schlecht für die Demokratie?

Gross: Das kommt auf das Populismus-Verständnis an, das Sie sich zu eigen machen. Wer unter dem Populismus in erster Linie eine Diskursform versteht - simplifizierend, leicht anbiedernd, „das Publikum“ bestätigend, schwierigen Fragen ausweichend, Sündenbock orientiert - der vermag darin wenig schlechtes für die Demokratie zu erkennen, zumal es auch unter den Linken und in der Mitte herzhafte Populisten gibt.

Wer sich dagegen den Populismus-Begriff von beispielweise J.W. Müller zu eigen macht, dem gemäß Andersdenkende gar nicht mehr dazu gehören, Ausländer und Flüchtlinge die Schuldigen seien an den meisten Problemen und die Grenzen dicht gemacht werden sollten, der erkennt im Populismus viel Undemokratisches und viele Bedrohungen für die Demokratie. Deshalb halte ich den Begriff des Populismus als analytisch wenig ergiebig und verzichte auf ihn.

Ich arbeite vielmehr mit Begriffen wie national-konservativ, nationalistisch, fremdenfeindlich, demagogisch, autoritär, fundamentalistisch. Für diese Adjektive gibt es in der AfD gewiss manche Adressaten; doch nicht alle AfD-Wähler verdienen diese Bezeichnungen. Das ist bei der schweizerischen SVP, beim französischen Front-National, beim Vlaams Blok, den Freiheitlichen in Österreich oder der dänischen Volkspartei im übrigens ganz ähnlich.

 

Mehr Demokratie: Skeptiker sehen in den AfD-Erfolgen ein Argument gegen Volksentscheide. Haben sie recht?

Gross: Gewiss nicht. Oder muss ich jetzt gegen den deutschen Fußball sein, nur weil es unter den AfDlern oder deutschen Nationalisten viele Fußballfans gibt? So kann ernsthaft nur jemand argumentieren, der schon immer skeptisch war gegenüber Volksentscheiden, aber nicht genau wusste, weshalb. Oder er hatte schon immer Zweifel an der politischen Reife und Klugheit des Volkes, traute sich dies aber früher nicht so recht zu sagen. Dann muss er sich jetzt aber fragen lassen, weshalb er dann diesem gleichen Volk unwidersprochen die Wahl des Parlamentes zutraut.

Nein, ich denke vielmehr, diese Wahlen sind nicht nur Ausdruck der großen Unzufriedenheit vieler Deutscher über die Verhältnisse in Deutschland sondern sie bringen auch eine große Unzufriedenheit über die Form der deutschen Demokratie zum Ausdruck. Viele möchten sich differenzierter und häufiger ausdrücken können als nur einmal durch Wahlen und durch die Auswahl zwischen Parteien, von denen keine einzige wirklich überzeugt.

Appell für die Erweiterung der Demokratie

Dieses Wahlergebnis kann auch als Appell für die Erweiterung der bloß indirekten Demokratie um direktdemokratische Elemente verstanden werden. Dann könnten beispielsweise die 60 Prozent der AfD-Wähler, die dies nur aus Enttäuschung über andere Parteien wegen wurden, die Politik dieser anderen Parteien mit Volksbegehren und Volksentscheiden gegen unbefriedigende Gesetzesvorhaben präzise korrigieren und müssten nicht AfD wählen und sich dann auch noch extremisieren lassen, beziehungsweise falsch verstanden werden.

Die direkte Demokratie geht direkt mindestens drei der größten Probleme an, weswegen AfD-Wähler zu solchen geworden sind: Sie bringt Politik und Politiker viel näher zu den Bürgern, überlässt diese nicht sich allein und beweist ihnen viermal im Jahr, dass sie tatsächlich gehört werden und sogar entscheiden dürfen, „die Politiker“ also nicht einfach machen können, was sie wollen. Vor allem führen aber die mit der direkten Demokratie ungleich häufigeren, differenzierteren und sachspezifischen Diskussionen dazu, dass Hundertausende von Menschen mehr dazu lernen, sachkundiger werden und sich durch irreführende Parolen und Schuldzuweisungen weniger verführen lassen, Parteien zu wählen, die niemandem helfen können.

 

Mehr Demokratie: Wie sollten die Deutschen mit der AfD umgehen und welche Konsequenzen sollten wir aus ihrem Erstarken ziehen?

Gross: Erstens müssen alle versuchen, zu verstehen, weshalb jemand AfD gewählt hat. Damit wollen viele beispielsweise eine massive Kritik an viel zu tiefen Renten zum Ausdruck bringen, ebenso ihre Angst arm und vernachlässigt zu werden, in einer Gegend zu leben, in dem es weder einen anständigen Bus, noch eine Post, ein leistungsfähiges Internet oder genug gute Arbeit gibt.

Zweitens müssen alle viel mehr versuchen, auch mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen, ihnen zuzuhören, versuchen, ihre Existenzprobleme zu verstehen. Und anschließend versuchen, ihnen zu zeigen, dass die AfD ja nichts wirklich dazu beiträgt, dass die wirklichen Ursachen für diese Nöte kleiner werden, die Probleme wirklich an den Wurzeln angegangen werden.

Drittens gilt es, allen demagogischen, irreführenden und unbekannte Dritte verletzende, beziehungsweise falsch beschuldigende AfD-Diskurse entgegenzutreten, zu widersprechen und zu widerlegen, wo immer sie geführt werden im Stammlokal, am Biertisch, im Verein, an der Talkshow oder eben in einem Parlament.

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