Pressemitteilung

Bürgerbegehren fehlt die Energie

Mehr Demokratie beklagt Themenausschlüsse für direkte Demokratie

Ganz Deutschland redet von der Energiewende, in der Praxis von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Nordrhein-Westfalen findet diese aber nicht statt. Grund hierfür sind laut der Initiative „Mehr Demokratie“ die in der Gemeindeordnung festgeschriebenen Themenausschlüsse und knappe Fristen für Bürgerbegehren. „Während es in anderen Bundesländern eine Reihe von Bürgerentscheiden über Windräder, Solarparks und Biomasse-Anlagen gab, herrscht bei diesen Themen hierzulande Fehlanzeige“, kritisierte Landesgeschäftsführer Alexander Trennheuser bei der Vorstellung des neuen Bürgerbegehrensberichts seines Vereins am Mittwoch in Düsseldorf.

 

Laut Zählung von Mehr Demokratie gab es bundesweit bis Ende 2011 auf kommunaler Ebene 175 direkt-demokratische Verfahren zu Energiefragen. Drei Viertel der Verfahren verteilen sich auf die Länder Bayern, NRW und Schleswig-Holstein. Während es in Nordrhein-Westfalen dabei aber hauptsächlich um den Verkauf von Stadtwerken ging, konnten die Bürger in anderen Ländern häufiger über den Bau von Windrädern oder Biomasse-Kraftwerken abstimmen.

 

„Dass es Bürgerentscheide hierüber nicht auch in NRW gab, liegt daran, dass die Gemeindeordnung Abstimmungen über Anlagen verbietet, die imissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen“, erläuterte Trennheuser. Hinzu komme, dass bis Ende 2011 auch Bürgerbegehren zu Bebauungs- und Flächennutzungsplänen nicht erlaubt gewesen seien, die bei der Errichtung von Energieanlagen ebenfalls eine Rolle spielten. „Der Landtag hat im Dezember zwar endlich Bürgerbegehren zu Bauleitplanungsfragen zugelassen, aber die knappe Frist von nur sechs Wochen zur Unterschriftensammlung für Begehren gegen Ratsbeschlüsse ist eine hohe Hürde“, so Trennheuser. Mehr Demokratie fordert, Bürgerbegehren nicht an Fristen zu binden.

 

Die Angst vor kurzsichtigen oder rückwärtsgewandten Bürgerentscheiden ist dabei unbegründet, meint Trennheuser. „Das viel zitierte Sankt-Florians-Prinzip ist nach wissenschaftlichen Untersuchungen eher die Ausnahme als die Regel.“ Bürgerbegehren seien keineswegs Bremsklötze für neue Energiekonzepte. Lediglich beim Thema Windkraft überwiege die Ablehnung. In Bezug auf Biomasse- und Solaranlagen sei die Mehrzahl der Verfahren zu Gunsten der neuen Technologien ausgegangen. „Außerdem entstehen immer mehr örtliche Energiegenossenschaften als ganz eigene Form der Bürgerbeteiligung im Bereich der Energiepolitik“, so der Mehr Demokratie-Geschäftsführer.

 

Insgesamt gab es laut dem von Mehr Demokratie in Kooperation mit der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung an der Universität Wuppertal und der Forschungsstelle für Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie an der Universität Marburg herausgegebenen Bürgerbegehrensbericht von 1956 bis Ende 2011 bundesweit 5.929 Bürgerbegehren und Bürgerentscheide. Auf NRW entfallen davon 628 Verfahren. 615 mal griffen die Bürger zum Bürgerbegehren, 170 mal kam es zum Bürgerentscheid. Erfolgreich waren 27,1 Prozent aller Bürgerbegehren entweder dadurch, dass sie vom Rat übernommen wurden oder im Bürgerentscheid eine Mehrheit erhielten.

 

37,6 Prozent aller Begehren waren unzulässig. Im in Sachen direkter Demokratie fortschrittlichen Bayern lag dieser Anteil nur bei 15,5 Prozent. Besonders häufig hatte in der Vergangenheit die Frage der Kosten für die Umsetzung eines Bürgerbegehrens zur Unzulässigkeit geführt. Der Landtag hatte diese Anforderung an Bürgerbegehren im vergangenen Jahr entschärft.

 

Fast jeder zweite Bürgerentscheid war ungültig, weil die für Bürgerbegehren vorgeschriebene Mindestzustimmung von 20 Prozent (bis 2000 25 Prozent) aller Stimmberechtigten nicht erreicht wurde. Bundesweit liegt der Anteil dieser „unecht gescheiterten“ Bürgerbegehren bei nur 13,3 Prozent. Grund für den hohen Anteil ungültiger Bürgerentscheide in NRW ist die im Ländervergleich hohe Einwohnerzahl vieler Kommunen. Je größer eine Stadt ist, desto niedriger ist erfahrungsgemäß die Abstimmungsbeteiligung. Grund: ein geringerer Anteil der Bürger ist von einem Thema direkt betroffen und somit zur Abstimmungsteilnahme motiviert. Der Landtag hatte deshalb im Dezember vergangenen Jahres das Abstimmungsquorum nach Gemeindegröße gestaffelt. Es liegt jetzt je nach Einwohnerzahl zwischen 10 und 20 Prozent aller Stimmberechtigten.

 

Weil in größeren Städten im Schnitt auch mehr Bürgerbegehren stattfinden, liegt Nordrhein-Westfalen bei der Zahl direkt-demokratischer Verfahren im Ländervergleich hinter Bayern und Baden-Württemberg an dritter Stelle. Die Top 10 der Kommunen mit den meisten Bürgerbegehren sind aber alle entweder Stadtteile von Hamburg oder bayerische Gemeinden. Vorne liegen Hamburg-Wandsbek mit 28 Bürgerbegehren und Augsburg mit 22 Begehren. In NRW kann man in einer Gemeinde im Schnitt alle 12 Jahre ein direkt-demokratisches Verfahren beobachten.

 

Hauptthema in NRW war mit einem Anteil von 30 Prozent der Bereich der öffentlichen Sozial- und Bildungseinrichtungen, also etwa die Frage, ob Schulen oder Bäder erhalten oder geschlossen werden. An zweiter Stelle liegen öffentliche Infrastrukturprojekte wie der Bau neuer Rathäuser. Platz 3 belegt der Themenbereich Verkehr.

 

"Bürgerbegehren fungieren als relativ sparsam und gezielt genutzter Seismograph für Stimmungslagen zu bestimmten Sachfragen mit insgesamt geringen Auswirkungen auf die kommunale Machtbalance“, kommentierte Professor Andreas Kost die Zahlen. Der Politikwissenschaftler von der Universität Duisburg-Essen beschäftigt sich bereits seit längerer Zeit mit der direkten Demokratie und hat mehrere Bücher dazu veröffentlicht.

 

Jahrzehntelang war Baden-Württemberg das einzige Bundesland, das Bürgerbegehren und Bürgerentscheide kannte. Seit 1990 haben alle deutschen Bundesländer die direkte Demokratie auf kommunaler Ebene eingeführt. Die nach einem Volksbegehren von Mehr Demokratie 1995 in Bayern per Volksentscheid festgelegten Spielregeln für Bürgerbegehren gelten bundesweit als die bürgerfreundlichsten. Bundesweite Wellen schlug hier zuletzt die Abstimmung über die dritte Start- und Landebahn des Flughafens in München. Im Bürgerentscheid an 17. Juni dieses Jahres stimmten 54,4 Prozent der Münchner gegen den Flughafenausbau.

 

Die Praxis der direkten Demokratie wird laut Mehr Demokratie dabei immer lebendiger. Seit dem ersten Bürgerbegehrensbericht des Vereins wuchs die Zahl der Bürgerbegehren und Bürgerentscheide bundesweit seit Ende 2007 um jeweils 35 Prozent.

 

Mehr Informationen:

  • <link fileadmin pdf>Bürgerbegehrensbericht 2012 (pdf, 52 Seiten)
  • <link>Bürgerbegehrensbericht: Lebendige Demokratie
  • Pressesprecher


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