"Der bürokratische Aufwand ist extrem"

Marcus Hohenstein

In Nordrhein-Westfalen läuft seit dem 5. Januar 2017 das Volksbegehren "G9 jetzt in NRW". Ziel des Volksbegehrens ist die Rückkehr zu einer Regelschulzeit mit Abitur nach neun Jahren in der Sekundarstufe II. 2005 war die Schulzeit an Gymnasien auf acht Jahre gekürzt worden. Dies ist das so genannte G8 oder Turbo-Abi nach Klasse 12.

 

Die Initiatoren des Volksbegehrens beklagen als Folge davon eine zu hohe Unterrichtsbelastung der Schüler, deren Schultag nun manchmal erst gegen 16 Uhr ende. Wir haben Marcus Hohenstein als eine der Vertrauenspersonen des Volksbegehrens zur praktischen Umsetzung der Unterschriftensammlung befragt.

 

Frage: Herr Hohenstein, ein Volksbegehren macht viel Arbeit. Wie sahen die Vorbereitungen aus und was machen Sie aktuell?

 

Marcus Hohenstein: Die Vorbereitungen begannen im letzten Jahr mit der Gründung des Vereins "Mehr Zeit für Kindheit und Jugend e.V.". Dann haben wir 3.000 Unterschriften stimmberechtigter Bürger gesammelt. Diese Unterschriften wurden allen Wahlämtern in den Heimatkommunen vorgelegt, die das Wahlrecht der Unterzeichner bestätigt haben. Am 29. November haben wir die Unterschriften beim Landeswahlleiter mit dem Antrag auf ein Volksbegehren eingereicht. Im neuen Jahr wurde uns dann der Starttermin 5. Januar 2017 vorgegeben.

 

Wir hatten seitdem eine Frist bis zum 1. Februar, um alle 396 Gemeinden mit Unterschriftenlisten zu versorgen. Zunächst mussten wir den Druck von 65.000 DIN-A3-Blättern organisieren. Nach der Lieferung von zwei Paletten mit 810 Kilogramm Papier in der 2. Januarwoche haben wir uns in einem ausgebauten Kellerraum eines Vaters zu viert getroffen und alles mit der Küchenwaage auf 396 Maxibriefe und Pakete verteilt. Am 16. Januar haben wir dann mit anderen Aktiven alles in drei Fuhren zur Post gebracht.

 

Da wir innerhalb einer Woche nur von einem kleinen Teil der Kommunen eine Rückmeldung über den Erhalt der Listen bekommen haben, haben wir am 19. Januar alle Städte per Mail angeschrieben. Auch auf diese Mail haben nur etwa 200 Kommunen geantwortet. Obwohl wir für die Pakete wegen der Nachverfolgung eine Meldung über eine erfolgte Zustellung bekommen haben, kam aus der Stadt Hamm die Meldung, die Listen seien nicht eingegangen. Auch weitere sieben Kommunen meldeten auf Nachfrage, die Listen seien nicht angekommen. An die Gemeinde Holzwickede schickten wir den Brief mit den Listen dreimal, das letzte Mal drei Tage vor Ende der Frist per Einschreiben mit Rückschein.

 

Obwohl die Städte zu einer Information über die Auslegungszeiten und -orte an die Vertrauensperson verpflichtet sind, ist auch dies zum Teil nicht oder mit der Angabe "zu den üblichen Öffnungszeiten" geschehen. Einige Gemeinden erwähnen auf Ihrer Webseite das Volksbegehren überhaupt nicht. Wir arbeiten im Moment daran, eine Tabelle mit den Eintragungsorten und -zeiten zu recherchieren, damit Bürger wenigstens über die Webseite g9-jetzt-nrw.de erfahren können, wo sie unterschreiben können. Auch dies ist langwierig, da ohne Anruf in der Gemeindeverwaltung manche Informationen nicht zu bekommen sind.

 

Frage: Damit es eventuell zu einem Volksentscheid kommt, müssen sich binnen eines Jahres rund 1,1 Million Bürger in die Unterschriftenlisten eintragen. Wie wollen Sie das erreichen?

 

Hohenstein: Auch bei der Volksinitiative 2014/15 war die Regierung davon ausgegangen, dass die nötige Zahl der Unterschriften nicht zustande kommen würde. Stattdessen installierte sie mit dem „Runden Tisch“ eine Gegenöffentlichkeit, in der die G8-Befürworter dominierten. Bereits da hat sich gezeigt, dass sie den Unmut der Bürger völlig unterschätzt hat. Jetzt wird es entscheidend sein, dass jeder Bürger die demokratische Mitbestimmungsmöglichkeit erkennt und sie zum Wohl der Kinder und der Bildung und Kultur in unserem Land auch einsetzt. Viele Menschen glauben oft: „Ich kann gegen die da oben sowieso nichts tun.“ Aber mit dem Volksbegehren haben alle die Möglichkeit, selbst die Politiker zu zwingen, in ihrem Sinne zu handeln. Und dies kommt in NRW wohl nur alle 40 Jahre vor.

 

Frage: Halten Sie die Hürden für Volksbegehren in NRW für angemessen oder für zu hoch? Was würden Sie ändern, wenn Sie könnten?

 

Hohenstein: Die Hürden für ein Volksbegehren sind unangemessen hoch. Der gesamte bürokratische Aufwand zulasten der Initiatoren ist extrem. So schreiben einige Städte, dass sie die Eintragungslisten nach der Auslegungsfrist am 7. Juni nicht an die Initiative zurücksenden, sondern die Listen persönlich abgeholt werden müssen. Wie das realisiert werden soll, ist uns schleierhaft.

 

Extrem ist auch das Verfahren der Bestätigung des Wahlrechts auf den Listen der freien Sammlung. Innerhalb der Sammlungsfrist von einem Jahr müssen die Listen zu allen 396 Gemeinden geschickt werden, da nur dort das Wahlrecht bestätigt wird. Aus den Erfahrungen der Volksinitiative wissen wir, dass dies von einigen Gemeinden verweigert und von anderen mit Bearbeitungszeiten von über einem Monat geschieht. Aber alle Listen, die am 4. Januar 2018 noch bei den Gemeinden liegen, gehen für das Volksbegehren verloren. Damit haben also die Gemeindeverwaltungen im Zweifelsfall den Erfolg oder Misserfolg des Volksbegehrens in der Hand.

 

Wenn ich könnte, würde ich die Bestätigung des Wahlrechts aus der Pflicht der Initiatoren entfernen. Denn dies ist ein Verwaltungsakt, den die Initiatoren nicht beeinflussen können, der ihnen aber zur Last gelegt wird. Auch das Zusenden von großen Papierbergen ist in Zeiten der Übermittlung von Formularen per PDF nicht mehr zeitgemäß. Hier könnte jede Gemeinde die Listen bei Bedarf selbst ausdrucken. Beim jetzigen Verfahren ist damit zu rechnen, dass eine Gemeinde zu viele und eine andere zu wenige Listen bekommen hat.

 

Die Beantragung eines Eintragungsscheins, mit dem man per Brief unterschreiben kann, ist bei einer großen Zahl von Kommunen viel zu kompliziert und hält Bürger bewusst von einer Teilnahme ab. Hier müsste die von den wenigen vorbildhaften Gemeinden ermöglichte Beantragung mittels Webformular allen Gemeinden vorgeschrieben werden. Auch telefonische Beantragung müsste ermöglicht werden. Manche Gemeinden bieten jetzt nur ein Formular als Download, mit dem dann per Post ein Eintragungsschein beantragt werden kann. Dieser wird dann per Post zugestellt und muss vom Bürger per Post wieder an die Stadt geschickt werden. Das erinnert an den "Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars".

 

Marcus Hohenstein, Vorsitzender der Elterninitiative „G9 jetzt NRW", ist Lehrer und lebt in Siegen

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